Musterbildung in der Biologie
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Fellzeichnung einer Giraffe |
Es fällt nicht schwer, den Ausdruck Muster mit dem Fach Biologie zu verknüpfen.
Als Erstes werden wir ihn mit Ornamentik in Verbindung bringen,
mit Fellzeichnungen von Tieren, Blattformen, vielleicht weiter mit Oberflächenstrukturen
und schließlich der Gesamtstruktur eines Organismus.
In einer allgemeinen Sichtweise beschreibt der Begriff jedoch lediglich die Verteilung von Stoffen.
So wird etwa die Fellzeichnung eines Tieres
durch eine unterschiedliche Verteilung eines oder mehrerer Stoffe (Pigmente) produziert,
die die Farbgebung beeinflussen.
Mit Hilfe dieser allgemeinen Betrachtungsweise lassen sich viele biologische Phänomene
als Wirkung eines Musters interpretieren:
Woher weiß eine Zelle, wo sie sich teilen muss?
Die Anreicherung eines Stoffes an der Trennungsebene bildet das notwendige Signal.
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"inneres Muster" eines Gehäuses |
In der Embryonalentwicklung von Organismen
beobachtet man eine stufenartige Genanschaltung nach dem Kaskadenprinzip:
Die Anreicherung eines Genproduktes ist Anlass zum Anschalten von Nachfolgegenen -
und das Ausbleiben eines Genprodukts bildet das Signal,
dass bestimmte Gene nicht angeschaltet werden.
Differenzierung findet statt,
wenn an verschiedenen Stellen verschiedene Produkte angereichert werden bzw. nicht vorhanden sind.
Die lokale Anreicherung oder das lokale Ausbleiben eines Genprodukts
ist jedoch nichts anderes als eine Musterbildung in Bezug auf die Konzentration eines Genprodukts.
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Natica undulata |
Damit die geschilderten Prozesse in der Natur so regelmäßig ablaufen können, wie wir es beobachten,
müssen stabile Verteilungen (Gradientenmuster) zu Stande kommen. Wie ist das möglich?
Der Physiker Hans Meinhardt veröffentlichte 1972 zusammen mit Alfred Gierer
ein mathematisches Modell zur biologischen Musterbildung, das beschreibt,
wie aus ungegliederten Anfangsbedingungen lokale Konzentrationsmaxima aufgebaut werden können.
Die Grundlagen des Modells bilden nichtlineare Wechselwirkungen zwischen wenigen Substanzen.
Die Beziehungen beschreiben antagonistische Effekte mit Selbstverstärkungen.
Es bilden sich Muster,
weil kleine Abweichungen von einer homogenen Verteilung eine starke positive Rückwirkung auf sich selbst haben.
Der antagonistische Effekt sorgt dafür,
dass die selbstverstärkende Reaktion weder beliebig anwachsen noch sich beliebig ausbreiten kann.
Das Modell erweist sich als vielseitig einsetzbar,
ja es scheint ein einheitliches Prinzip zu erklären,
welches zum Aufbau von Mustern und damit zu Strukturbildung führt:
Neben Differenzierungsvorgängen in der Embryogenese erläutert der Ansatz die
helikale Anordnung von Blättern ebenso wie
das Ausstrecken und Zurückziehen von Zellfortsätzen chemotaktischer Zellen -
oder die Musterbildung auf Schneckenschalen.
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Neritina communis |
Die Idee, solche Reaktions-Diffusions-Mechanismen bei der Modellierung von Schalenmustern zu verwenden,
geht ebenfalls auf Hans Meinhardt zurück (1984).
Die erfolgreichen Bemühungen seines Ansatzes veröffentlichte der mittlerweile emeritierte Physiker
1995 in dem englischsprachigen Werk The Algorithmic Beauty of Sea Shells.
Die deutsche Übersetzung erschien 1997 unter dem Titel Wie Schnecken sich in Schale werfen.
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noch ein Exemplar von Neritina communis |
Um die Botschaft zu entziffern, die auf einer Schale niedergeschrieben ist,
muss man sich zunächst vergegenwärtigen, wie diese Muster entstehen.
Die Gehäuse sind starr.
Eine Schnecke kann ihren Wohnraum nur durch entsprechende Anlagerung von neuem Material an einer Kante,
der so genannten Wachstumskante, vergrößern.
In der Regel wird auch nur während dieser Anlagerung Pigment eingebaut.
Ähnlich dem Stricken entstehen die Muster im Laufe der Zeit
durch das Ansetzen neuer Musterelemente entlang der Wachstumskante.
Denkt man sich die Schale entrollt und flach ausgebreitet,
so entspricht eine Achse der Position entlang der Kante,
die andere Achse korrespondiert mit der Zeitkoordinate.
Das zweidimensionale Muster ist also eine zeitliche Aufzeichnung eines eindimensionalen Prozesses,
welcher entlang der Wachstumskante stattgefunden hat.
Man kann davon ausgehen, dass die Schalenmuster keinem starken Selektionsdruck unterliegen.
Variationen sind möglich, ohne dass sie die Lebensfähigkeit der Tiere stark beeinflussen würden.
Die ungemein vielfältigen Schalenmuster bieten so einen ausgezeichneten Weg,
die Flexibilität des Ansatzes von Meinhardt und Gierer zu testen,
ohne auf Experimente zurückgreifen zu müssen.
Mehr zum mathematischen Modell sowie eine beispielhafte Erläuterung
des Zusammenspiels zwischen den Gleichungen und der verbalen Formulierung
gibt es hier.
Ein Java-Applet mit Simulationen zu Schalenmustern findet man
an dieser Stelle.